11. Januar 2021

«Mind the gap» - Migrationsrechtliche Konsequenzen des Brexit

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Im Oktober 2019 konnte nach langwierigen Verhandlungen ein geordneter Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU per 31. Januar 2020 erzielt werden. Mit seiner «Mind the gap»-Strategie beabsichtigt der Bundesrat rechtliche Lücken nach dem Brexit zu vermeiden.

Am 23. Juni 2016 sprach sich das britische Stimmvolk in einer Volksabstimmung mit 51.9% für den Austritt aus der EU («Brexit») aus. Nachdem die britische Regierung der EU im März 2017 formell ihren Austrittsentscheid bekannt gegeben hatte, konnte nach langwierigen Verhandlungen und mehrfachem Verschieben des Austrittsdatums im Oktober 2019 eine Einigung über die Bedingungen eines geordneten Austritts per 31. Januar 2020 erzielt werden. Im Austrittsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich («UK») und der EU einigte man sich unter anderem auf eine Übergangsperiode bis zum 31. Dezember 2020, während welcher das UK einem EU-Mitgliedstaat ohne Mitentscheidungsrecht gleichgesetzt wurde.

Regelung während der Übergangsperiode

Der Brexit hat auch zahlreiche Konsequenzen für die Schweiz, da die Beziehungen zwischen der Schweiz und dem UK bisher weitgehend durch die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU geregelt waren. Im Austrittsabkommen wurde in diesem Zusammenhang vereinbart, dass sämtliche Drittstaatenabkommen der EU, wozu die bilateralen Abkommen mit der Schweiz gehören, für die Dauer der Übergangsperiode ebenfalls weiterhin auf das UK angewendet werden.

Das Freizügigkeitsabkommen (FZA), das den freien Personenverkehr insbesondere zu Erwerbszwecken zwischen der Schweiz und der EU regelt, war als Teil der bilateralen Verträge entsprechend noch bis am 31. Dezember 2020 auf Staatsangehörige des UK in der Schweiz und auf Schweizer Staatsangehörige im UK anwendbar. Bis Ende 2020 konnten Staatsangehörige beider Länder folglich FZA-Rechte im jeweils anderen Land erwerben. Während der Übergangsfrist blieben in den Beziehungen zwischen der Schweiz und dem UK entsprechend die wichtigen Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 über die „Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ (sog. Koordinationsvorschriften) unverändert anwendbar.

Regelung nach der Übergangsperiode

a) "Mind the gap" Strategie

Mit seiner «Mind the gap»-Strategie beabsichtigt der Bundesrat seit Oktober 2016 rechtliche Lücken nach dem Brexit zu vermeiden, gegenseitige Rechte und Pflichten in der Beziehung Schweiz-UK zu erhalten und allenfalls auszubauen. Konkret regelt die Schweiz ihre Beziehung zum UK ab dem 1. Januar 2021 mit neuen bilateralen Abkommen, die das gegenwärtige rechtliche Verhältnis weitgehend sicherstellen sollen. Dafür hat der Bundesrat insgesamt sieben Abkommen mit der britischen Regierung ausgehandelt (Luftverkehrsabkommen, Strassenverkehrsabkommen, Versicherungsabkommen, Handelsabkommen, Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, Abkommen zur Mobilität von Dienstleistungserbringern, Polizeikooperationsabkommen).

b) Zugang zum Arbeitsmarkt

Mit Ablauf der Übergangsperiode gelten UK-Staatsangehörige seit dem 1. Januar 2021 nun nicht mehr als EU-Staatsangehörige und die bilateralen Abkommen – darunter das FZA mit den Koordinationsvorschriften – sind nicht mehr auf sie anwendbar.

Der gegenseitige Arbeitsmarktzugang für Neuzuziehende wird ab dem 1. Januar 2021 entsprechend wieder durch die jeweiligen nationalen Gesetzgebungen geregelt. Für UK-Bürger bedeutet dies, dass wenn sie nach dem 31. Dezember 2020 in die Schweiz einwandern oder in der Schweiz arbeiten möchten, neu die Bestimmungen des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) auf sie anzuwenden sind. Damit gelten UK-Staatsangehörige in der Schweiz neu ebenfalls als sog. «Drittstaatsangehörige» und unterliegen den Kontingenten für die Anzahl Aufenthaltsbewilligungen (Art. 20 AIG). Neu müssen Arbeitgeber in der Schweiz für UK-Staatsangehörige somit vorgängig bei der zuständigen kantonalen Behörde eine Arbeitsbewilligung beantragen. Dabei haben sie u.a. nachzuweisen, dass der potentielle britische Arbeitnehmende gut qualifiziert ist und dass weder auf dem inländischen Arbeitsmarkt noch auf den Arbeitsmärkten der EU/EFTA-Länder eine für die zu besetzende Stelle geeignete Person zur Verfügung steht (Art. 21-23 AIG). Eine ausnahmsweise Zulassung nach FZA kann trotz Arbeitsaufnahme nach dem 31. Dezember 2020 erfolgen, sofern ein Arbeitsvertrag mit Beginn der Tätigkeit am 1. Januar 2021 bzw. am ersten Werktag von 2021 sowie ein Nachweis des behördlich nicht gemeldeten Aufenthalts in der Schweiz bereits im Jahr 2020 vorliegt (Nachweis bspw. mittels Mietvertrags).

Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Schweiz mit dem UK traditionell ein enges Verhältnis pflegt und das UK mit einem Volumen von 44,6 Milliarden CHF im Jahr 2019 der drittgrösste Handelspartner der Schweiz darstellte, hat der Bundesrat für 2021 vorübergehend ein separates Kontingent für erwerbstätige UK-Staatsangehörige festgelegt. Damit soll die nötige Flexibilität für die Schweizer Wirtschaft gewährleistet werden, indem auch im kommenden Jahr Fachkräfte aus dem UK rekrutiert werden können. Im Jahr 2021 wird so eine Neubeschäftigung von bis zu 3500 Erwerbstätige aus dem UK ermöglicht (2100 mit Aufenthaltsbewilligungen (B) und 1400 mit Kurzaufenthaltsbewilligungen (L)). Diese Höchstzahlen gelten vorerst für ein Jahr und werden quartalsweise an die Kantone freigegeben. Die Bewilligungen für britische Staatsangehörige unterliegen hingegen vorläufig nicht dem Zustimmungsverfahren des Bundes (SEM) und werden daher ausschliesslich in kantonaler Kompetenz erteilt. Neben der Kontingentierung unterliegt die Zulassung zur Erwerbstätigkeit einer arbeitsmarktlichen Prüfung nach den Voraussetzungen des AIG (Art. 21 ff., vgl. oben) durch das Amt für Wirtschaft und Arbeit. Diese Massnahme stellt eine einjährige Übergangslösung dar und soll kein Präjudiz für zukünftige Regelungen schaffen. Käme im Verlauf des nächsten Jahres keine Einigung über ein zukünftiges Migrationsregime zustande, könnten gemäss SEM die separaten UK-Kontingente für das Jahr 2022 in das Drittstaatenkontingent integriert werden.

Das am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Abkommen über die erworbenen Rechte der Bürgerinnen und Bürgern schützt die Rechte von SchweizerInnen und britischen Staatsangehörigen, die unter dem FZA bis am 31. Dezember 2020 im jeweils anderen Land erworben wurden (namentlich Aufenthaltsrechte, Familiennachzug, Sozialversicherungsansprüche, Anerkennung von Berufsqualifikationen). Dieses Abkommen wurde durch einen Beschluss des „Gemischten Ausschusses EU-Schweiz“ ergänzt, der den Schutz der Rechte auf Staatsangehörige von EU-Mitgliedstaaten und auf grenzüberschreitende Situationen mit EU-Bezug ausweitet.

c) Koordination der Sozialversicherungssysteme

Mit Ablauf der Übergangsfrist Ende 2020 sind auch die Vorschriften über die Koordinierung der Sozialversicherungssysteme im Verhältnis Schweiz-UK grundsätzlich nicht mehr anwendbar. Durch das bilaterale Abkommen über die erworbenen Rechte bleiben jedoch u.a. die Koordinierungsvorschriften (vgl. oben) für Personen, die sich bereits vor 2021 in einer grenzüberschreitenden Situation Schweiz-UK befanden und dem Sozialversicherungsrecht eines dieser Staaten unterstanden, weiterhin anwendbar. Solange diese Personen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit, ihrer Erwerbstätigkeit oder ihres Aufenthalts also einen seit vor 2021 andauernden Bezug zu beiden Staaten haben, ändert sich für sie nach dem Brexit nichts. Für diese Personen werden ferner die Rentenansprüche aufrechterhalten, Rentenzahlungen zum Zeitpunkt des Bezugs exportiert und erworbene Versicherungszeiten auch 2021 angerechnet. Massgebend ist somit nicht der Eintritt des Versicherungsfalles vor 2021, sondern der Erwerb von Versicherungszeit noch unter dem FZA. Daraus folgt letztlich, dass auch alle am 1. Januar 2021 bereits laufenden Leistungen der Sozialversicherungen (Alters- und Invalidenrenten, EL, Mutterschaftsentschädigung, etc.) weiterhin ausgerichtet werden.

Auf grenzüberschreitende Situationen, die erst nach dem 31. Dezember 2020 überhaupt vorliegen und damit nie unter das FZA gefallen sind, wird bis zum Inkrafttreten neuer Koordinierungsvorschriften das alte bilaterale Sozialversicherungsabkommen von 1968 zwischen der Schweiz und dem UK angewendet, welches durch das Inkrafttreten des FZA suspendiert wurde. Die neuen sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen für die Beziehung zwischen der Schweiz und dem UK sind derzeit noch in Verhandlung.

MME berät und unterstützt Sie gerne bei Fragen rund um die Migration und Sozialversicherungen im grenzüberschreitenden Kontext.