22. Juni 2020

Bedeutung des Europäischen Nachlasszeugnisses ("ENZ")

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Erläuterung zum Europäischen Nachlasszeugnis.

Die europäische Union hat im Sommer 2012 die EU-Erbrechtsverordnung in Kraft gesetzt (kurz «EuErbVO»: Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses). Das neue Recht wurde im Hinblick auf eine Harmonisierung des europäischen, im Wesentlichen formellen Kollisionsrechts geschaffen. Auf die Schweiz - als Nichtmitglied des Staatenverbundes - ist die EuErbVO grundsätzlich nicht anwendbar. Trotzdem ist die Schweiz aber tangiert und es kommt immer wieder zu Situationen, in denen der Schweizer Gesetzgeber sowie die Schweizer Praxis sich mit dem neu geschaffenen EU-Recht auseinandersetzen muss. So ist es seit der Inkraftsetzung der EuErbVO auch möglich, dass ein Schweizer Notar, eine Schweizer Bank oder ein Schweizer Grundbuchamt mit einem Europäischen Nachlasszeugnis konfrontiert wird. Vor dem Hintergrund des hierzulande bekannten und verbreiteten Erbscheines stellt sich die Frage, welche Gültigkeit dieser Urkunde in der Schweizer Rechtsordnung zukommt.

Gemäss dem Bundesamt für Statistik wohnen 11% der Schweizer Bevölkerung im Ausland, wovon wiederum 62% innerhalb Europas leben. Umgekehrt leben über 1.7 Millionen EU-Bürger in der Schweiz (Stand 2017). Der freie Personenverkehr innerhalb der EU und mit der Schweiz trägt also das seine dazu bei, dass immer mehr internationale Erbfälle mit Bezug auf verschiedene europäische Staaten entstehen. Um solche (in aller Regel komplexe) Sachverhalte zu vereinfachen, hat die Europäische Union in der EUErbVO ein einheitliches europäisches Nachlasszeugnis geschaffen. Es handelt sich dabei um eine dem Erbschein ähnliche Urkunde mit dem Zweck des Nachweises über die Rechtstellung von Personen als Erben, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker und/oder Nachlassverwalter. Das europäische Nachlasszeugnis ist für internationale Nachlässe mit Bezug zu mindestens zwei EU-Mitgliedstaaten gedacht. Für die Ausstellung eines solchen Zeugnisses kann ein einheitliches und standardisiertes – allerdings (leider) nicht obligatorisches - Formular («Formular V», zu finden in Anhang 5 der EUErbVO) verwendet werden, welches seine Wirkung in allen Mitgliedstaaten direkt entfacht ohne dass es hierfür eines weiteren Anerkennungsverfahrens bedarf. Die Wirkungen eines ENZ sind dreifaltig: es besitzt i) eine gesetzliche Richtigkeitsvermutung, ii) eine Legitimationswirkung und iii) einen Gutglaubensschutz. Die EUErbVO sagt aber nichts über die Geltung des ENZ in Bezug auf Drittstaaten (wie z.B. die Schweiz) aus. Zur Beantwortung dieser Frage muss deshalb auf das nationale Recht jedes betroffenen Drittstaates zurückgegriffen werden.

Die Schweizer Rechtsordnung definiert die Anerkennungsvoraussetzungen für ausländische Entscheide in Art. 25 des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG). Danach wird eine ausländische Entscheidung in der Schweiz anerkannt, wenn (a) die Zuständigkeit der Gerichte oder Behörden des Staates, in dem die Entscheidung ergangen ist, begründet war (beim ENZ namentlich bei Wohnsitz des Erblassers im Urteilsstaat) , (b) wenn gegen die Entscheidung kein ordentliches Rechtsmittel mehr geltend gemacht werden kann bzw. wenn sie endgültig ist, und (c) wenn kein allgemeiner Verweigerungsgrund, wie beispielsweise ein Verstoss gegen den schweizerischen ordre public, vorliegt. Art. 25 IPRG als lex generalis muss zudem in Verbindung mit der lex specialis, nämlich Art. 96 IPRG betreffend ausländische Entscheidungen, die den Nachlass betreffen, gelesen werden. Danach werden ausländische Urkunden von der hier zuständigen Behörde anerkannt, wenn sie (a) im Staat des letzten Wohnsitzes des Erblassers oder im Staat, dessen Recht er gewählt hat, getroffen, ausgestellt oder festgestellt worden sind oder (b) wenn sie in einem dieser Staaten anerkannt werden.

Grundsätzlich ist das europäische Nachlasszeugnis eine endgültige Urkunde im Sinne von Art. 25 IPRG, falls nach seiner Ausstellung kein Korrekturverfahren nach den einschlägigen Bestimmungen der EuErbVO eingeleitet worden ist. Auch kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass das ENZ konform mit dem Schweizer ordre public ist. Differenziert zu betrachten ist hingegen, welche Rechtswirkungen dem ENZ in der Schweiz zukommen, da die Art. 25 und 96 IPRG lediglich die Anerkennung und Gültigkeit von Urkunden, nicht aber deren Wirkungen regeln. Die herrschende Lehre folgt dabei der Theorie der kontrollierten Wirkungsübernahme: Ausländische Urkunden entfalten in der Schweiz grundsätzlich die gleichen Rechtswirkungen wie im Ausland. Eine Ausnahme besteht aber bei Schweizer Rechtsinstituten und -urkunden, die hierzulande eine exklusive Wirkungshoheit beanspruchen. So wird vor allem der gute Glauben des Besitzers von beweglichen Sachen (Art. 933 ZGB) oder von Einträgen im Grundbuch (Art. 973 ZGB) exklusiv geschützt und kann durch ein ENZ nicht aufgehoben werden. Demgegenüber kann aber z.B. eine Bank und/oder eine Versicherung gestützt auf ein ENZ befreiend leisten, das in der Schweiz von der zuständigen Behörde anerkannt und für vollstreckbar erklärt worden ist.

Zusammenfassend ist ein Europäisches Nachlasszeugnis als funktionell und inhaltlich grundsätzlich gleichwertig wie eine ausländische Erbbescheinigung oder ein Schweizer Erbschein anzusehen. Das (von der jeweils zuständigen Schweizer Behörde anzuerkennende) ENZ ist namentlich im Grundbuchverkehr zu akzeptieren und darf von Banken und Versicherungen als gültiger Legitimationsschein angesehen werden. Allerdings konnte sich das ENZ bis heute weder in der EU noch international durchsetzen. So konnte sich z.B. noch keine einheitliche behördliche Praxis rund um eine extraterritoriale Anwendung von ENZ etablieren. Dies allein führt bereits zu einer unterschiedlichen Handhabung des ENZ in den EU-Mitgliedstaaten, welche aus Gründen der Rechts- und Anwendungssicherheit ihre nationalen Erbscheine bevorzugen. In internationalen Nachlässen dominieren deshalb nach wie vor nationale Erbscheine – aber ihr Verhältnis zum ENZ ist derzeit rechtlich noch unbefriedigend definiert. Es ist deshalb möglich, dass verschiedene ENZ aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten und/oder ENZ und nationale Erbscheine nebeneinander im Umlauf sind. Dies verhindert einen Vertrauensaufbau in dieses an sich sinnvolle Rechtsinstitut. Bei Europäischen Nachlasszeugnissen herrscht deshalb leider noch viel Rechtsunsicherheit und der Beizug von Fachleuten ist zu empfehlen.

Bei Fragen rund um Europäische Nachlasszeugnisse und seine Gültigkeit in der Schweiz steht Ihnen das MME- Erbrechtsteam gerne zur Verfügung.