Eine Einordnung der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Umsetzung des Lärmschutzes
Das Bundesgericht hat in den letzten Jahren verschiedene Baubewilligungen für Grossprojekte aufgrund von lärmschutzrechtlichen Mängeln aufgehoben. In einem Entscheid vom Januar 2022 hat das Bundesgericht die Anforderungen an die Erteilung einer Ausnahmebewilligung für Neubauten an lärmkritischen Standorten verschärft.
Neubauten müssen den Lärmschutzvorschriften im Umweltschutzgesetz (USG) und den konkretisierenden Vorschriften in der Lärmschutzverordnung (LSV) genügen. Bei Neubauten müssen die Immissionsgrenzwerte gemäss Art. 22 USG grundsätzlich in allen lärmempfindlichen Räumen eingehalten werden. Alternativ können, falls die Räume zweckmässig angeordnet sind, zusätzliche Schallschutzmassnahmen getroffen werden.
Ist eine Einhaltung der Immissionsgrenzwerte mittels baulicher Massnahmen nicht möglich, kommt nur die Ausnahmebewilligung im Sinne von Art. 31 Abs. 2 LSV in Frage.
Voraussetzungen für die Erteilung einer Ausnahmebewilligung ist, dass alle baulichen und gestalterischen Massnahmen gemäss Art. 31 Abs. 1 LSV ausgeschöpft wurden und, dass eine hinreichende Massnahmenprüfung vorgenommen wurde. Das ist z.B. mittels Gutachten nachzuweisen.
Das Bundesgericht stellt im aktuellen Entscheid klar, welche Anforderungen an die Prüfung von Lärmschutzmassnahmen gestellt werden. So muss vom Baugesuchsteller eine adäquate Auswahl an baulichen und gestalterischen Massnahmen detailliert geprüft werden. Zudem braucht es eine nachvollziehbare Begründung, warum genau die ausgewählten Massnahmen geprüft wurden und weshalb diese Massnahmen nicht umgesetzt werden können. Insbesondere bei einem Bau an einem lärmkritischen Standort muss der Lärmschutz bereits von Anfang an als relevante Rahmenbedingung miteinbezogen werden. Unzulässig ist es, eine mit dem Lärmschutz inkompatible Baute ohne Rücksicht auf den Lärmschutz zu planen und daraufhin darauf zu verweisen, dass keine angemessenen Massnahmen getroffen werden könnten.
Eine Ausnahmebewilligung wird nur erteilt, wenn auch ein überwiegendes Interesse am Gebäude besteht. Die Behörde hat bei dieser Interessenabwägung sämtliche relevanten öffentlichen Interessen gegeneinander abzuwägen. Es genügt nicht, generelle Gründe, welche praktisch immer angeführt werden könnten, zu erwähnen (z.B. knappes Wohnangebot). Die Verwaltungsbehörde hat bei der Interessenabwägung auch zu prüfen, ob der Lärm an der Quelle reduziert werden könnte (z.B. durch Temporeduktion).
Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass sofern der Neubau in einer Zone mit erhöhter Empfindlichkeitsstufe realisiert werden soll, die Lärmvorbelastung bereits bei der Zuordnung der Empfindlichkeitsstufe berücksichtigt wurde. Diese Gründe dürfen nicht erneut in genereller Weise bei der Begründung einer Ausnahmebewilligung vorgebracht werden.
Das Bundesgericht wirft im aktuellen Entscheid die Frage auf, ob bei einer starken Überschreitung der Grenzwerte eine Ausnahmebewilligung per se ausser Betracht falle. Es lässt diese Frage aber offen und verneint im Anschluss die Bewilligungsfähigkeit aus anderen Gründen. Das Bundesgericht bemerkt jedoch, dass bei einer starken Lärmbelastung die Auseinandersetzung mit möglichen Lärmschutzmassnahmen vertieft zu erfolgen habe.
Der Kanton Zürich verfolgte in den letzten Jahren eine pragmatische Bewilligungspraxis bei lärmkritischen Bauvorhaben. Befindet sich in einer Wohnung maximal ein Drittel von Räumen, bei welchen die Immissionsgrenzwerte nicht eingehalten wird, kann das Vorhaben grundsätzlich bewilligt werden, sofern eine kontrollierte Lüftung eingebaut wird, die Wohnung über einen ruhigen Aussenraum verfügt und das überwiegende öffentliche Interesse an der Wohnnutzung begründet wird. Der aktuelle Bundesgerichtsentscheid äussert sich nicht zur Zulässigkeit einer solchen Praxis, er bemängelt nur die unzureichende Auseinandersetzung mit den Lärmschutzmassnahmen und die ungenügende Interessenabwägung. Die früher praktizierte Praxis, dass Immissionsgrenzwerte nur an einem sog. Lüftungsfenster gemessen und somit eingehalten werden müssen, wurde vom Bundesgericht bereits im Jahr 2016 als unzulässig erklärt.
Bis jetzt wurde die Frage, ab welchem Punkt eine Ausnahmebewilligung ausser Betracht fällt, vom Bundesgericht noch nicht beantwortet. Mit dem aktuellen Entscheid verdeutlicht das Bundesgericht aber zumindest, dass hohe Anforderungen an die Erteilung einer Ausnahmebewilligung gestellt werden müssen und sich der Baugesuchsteller eingehend mit dem Lärmschutz auseinanderzusetzen hat. Man wird abwarten müssen, ob resp. wie der Kanton Zürich seine jetzige Bewilligungspraxis anpassen wird. Mit dem Entscheid des Bundesgerichts bleibt praktisch kein Raum für eine schematisierte Bewilligungspraxis, vielmehr wird eine einzelfallabhängige Auseinandersetzung mit möglichen Lärmschutzmassnahmen sowie eine vertiefte, umfassende Interessenabwägung verlangt.