04. Juli 2023

Der Zweitbauende hat das Nachsehen

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Widersprechen sich ein gegenseitiges, dienstbarkeitsrechtlich geregeltes Näherbaurecht mit baurechtlichen Grenzabstandsvorschriften, so hat der Zweitbauende das Nachsehen und kann nach Bautätigkeit auf dem Nachbargrundstück von seinem Näherbaurecht nicht mehr profitieren. Dies hat das Bundesgericht in einem ganz aktuellen Entscheid bestätigt.

Sachverhalt

Im vorliegenden Bundesgerichtsentscheid stritten sich zwei Nachbarn um die Auslegung eines gemäss öffentlich beurkundeten Dienstbarkeitsvertrages vom 15. Februar 1990 vereinbarten Näherbaurechts, jeweils zugunsten und zulasten der beiden Grundstücke, bis auf einen Meter an die gemeinsame Grenze bauen zu dürfen. Die Baubewilligung für den Abbruch der bestehenden Gebäude auf der einen Liegenschaft und gleichzeitigem Neubau eines Mehrfamilienhauses, unter Ausnützung des Näherbaurechts, wurde diesem Nachbarn erteilt. Dagegen wehrte sich der andere Nachbar mit dem Argument, ihm sei wegen öffentlich-rechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften die Nutzbarmachung "seines" Näherbaurechts verwehrt, bis vors Bundesgericht erfolglos.

Was ist ein Näherbaurecht?

Das Näherbaurecht umfasst das Recht, in einem geringeren als dem gesetzlichen Abstand an die Grenze des Nachbargrundstücks zu bauen, d.h. auf oder unter der Bodenfläche ein Bauwerk zu errichten oder beizubehalten. Im Gegensatz zu den gewöhnlichen Baurechtsdienstbarkeiten baut der aus einem Näherbaurecht berechtigte Eigentümer auf seinem eigenen Grundstück und nicht auf dem belasteten Grundstück, und dessen Eigentümer wiederum hat keinen Eingriff in die Substanz seines Grundstücks zu dulden, sondern die Unterschreitung des gesetzlichen Mindestgrenzabstandes durch den berechtigten Eigentümer auf dem Nachbargrundstück. Bei einem gegenseitigen Näherbaurecht verpflichten sich die beteiligten Grundeigentümer gegenseitig, ein Gebäude oder einen Gebäudeteil des anderen im Abstandsbereich zu dulden.

Gründe für ein Näherbaurecht

Vorliegend handelte es sich um ein generelles - und nicht projektspezifisches - Näherbaurecht. Aus dem Dienstbarkeitsplan war ersichtlich, dass im Zeitpunkt des Vertragsschlusses das Gebäude des Beschwerdeführers deutlich innerhalb des gesetzlichen Grenzabstands zur Nachbarparzelle stand, und auf der Nachbarparzelle befanden sich zwei Gebäudeteile deutlich innerhalb des gesetzlichen Grenzabstands. Diese Umstände deuten ausschliesslich auf ein Interesse der seinerzeitigen Vertragsparteien an der Regularisierung des bestehenden Zustandes hin.

Ausgestaltung eines Näherbaurechts

Je nach Ausgestaltung des gegenseitigen Näherbaurechts kann - wie vorliegend - ein baurechtlich vorgeschriebener Gebäudeabstand betroffen sein. Gemäss Art. 6 Abs. 1 ZGB können Näherbaurechte jedoch von vornherein nur im Rahmen des öffentlich-rechtlich Zulässigen begründet werden. Deshalb kann es sein, dass öffentlich-rechtliche Gebäudeabstände die beidseitige Umsetzung des eigentlich gegenseitig ausgestalteten Näherbaurechts ausschliessen. Wird dies im Dienstbarkeitsvertrag nicht geregelt, ist dieser Konflikt zwischen den gegenseitigen Rechten und Pflichten durch Vertragsauslegung aufzulösen.

Der Erstbauende ist im Vorteil

Wie dieser Konflikt vorliegend gelöst werden kann, dazu äusserst sich das Bundesgericht klar. Bei einem Widerspruch zwischen dem (gegenseitigen) Näherbaurecht und baurechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften profitiert gemäss Ansicht des Bundesgerichts der Erstbauende vom Abstandsprivileg. Der Zweitbauende hat das Nachsehen und muss weiter von der Grenze abrücken. Damit präjudiziert der Erstbauende die baulichen Möglichkeiten des Zweitbauenden. Die höchstrichterliche Instanz hält weiter fest, dass der Vertragstext oder weitere, (objektiv erkennbare) massgeblichen Umständen vorsehen müssen, dass die Vertragsparteien mit der Einräumung eines gegenseitigen Näherbaurechts auch tatsächlich eine «Abrückungspflicht» in dem Sinne vereinbart haben, dass beide gleichermassen vom gegenseitig eingeräumten Näherbaurecht profitieren können. Andernfalls, wie vorliegend, darf der Erstbauende von seinem Recht Gebrauch machen und der Nichtbauende darf und kann die Realisierung der Baute nicht mit dem Argument verhindern, ihm sei wegen öffentlich-rechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften die Nutzbarmachung "seines" Näherbaurechts verwehrt.

Empfehlung

Beim Verfassen eines Näherbaurechts ist deshalb klar zu regeln, ob es sich tatsächlich um ein gegenseitiges Näherbaurecht handelt und was im Falle von allfälligen Widersprüchen mit den geltenden öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften im Falle eines Erstbauprojekts gelten soll. Letztlich tut gut daran, wenn die sog. «Abrückungspflicht» ausdrücklich im Dienstbarkeitsvertrag geregelt wird. Auch bereits bestehende Dienstbarkeitsverträge betreffend Näherbaurecht sollten wenn möglich aufgrund dieses Entscheids überprüft und gegebenenfalls angepasst werden.